„Den ganzen Tag streckte ich meine Hand aus nach einem Volk, das in seinem Trotz mich ärgert.“
Als ich diese Stelle für den heutigen Morgen das erste Mal gelesen habe, dachte ich spontan an Eltern kleiner Kinder. An die Trotzphase.
Unser Sohn wird demnächst 14 – also kein Trotzalter mehr, aber dafür mittenrein in die Pubertät: „Ja ja“, „ich mach das schon“, „ich weiß das schon“, „das brauchst Du mir nicht zu sagen“. – Okay. Wenn Du dennoch Hilfe brauchst, sag Bescheid. Wir Deine Eltern sind für Dich da.
Wenn er irgendwo mit seinen Schulfreunden zusammensteht und ich würde auftauchen und rüberrufen „Hier bin ich“, „Ich bin hier“ – das wäre ihm vermutlich hochnot-peinlich.
Neulich war er krank und konnte nicht zur Schule. „Hast Du Dich mal erkundigt, was Deine Klasse heute gemacht hat? Ruf doch mal einen an und frag nach. – „Das macht man heute nicht mehr. Jemanden anrufen, das ist uncool.“
Ist es uncool, Gott „anzurufen“ und auf seine Hilfe zu hoffen? Oder umgekehrt: Ist es cool, Gottes Mahnung zu ignorieren, wie wir sie hier lesen?
Ich persönlich habe mit diesem Buch Jesaja meine Probleme. Dieser ständige Wechsel von verheißenem Trost und angedrohter Vergeltung! Aber natürlich ist das, was die Autoren hier im dritten Teil des Jesaja-Buches aufgeschrieben haben, auch nicht wortwörtlich zu verstehen.
Vermutlich hatten sie mindestens zwei Gründe für ihre Texte: Einerseits ist vieles von dem festgehalten worden unter dem Eindruck des Unrechts, das es damals schon gab, und das das Volk in den vorhergehenden 200 Jahren erlebt hat.
Da wurden Angriffskriege geführt, da wurden Menschen vertrieben, ihre Stadt – Jerusalem – ihr Heiligtum – der Tempel – wurden zerstört. Sie selbst wurden verschleppt in ein anderes Land. In das so genannte babylonische Exil.
Es gab also auch damals schon Kriege, Hass und Menschenverachtung, wie wir sie seit Jahren in Syrien erleben, in Mali, im Südsudan, in Myanmar, in Afghanistan, im Nahen Osten und jetzt in der Ukraine. Unvorstellbar brutal und grauenvoll.
Vielleicht waren diese Bücher der Versuch einer Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“ – warum gibt es dieses Leid. Warum gibt es einen Gott, der das zulässt? Warum schreitet er nicht ein? Er muss doch das Leid sehen und diesen Wahnsinn.
Und diese hochkomplexen Bücher des Alten Testaments zeigen: es gab auf diese Frage damals wie heute keine einfache Antwort. – Was die Autoren vor 2.500 Jahren vielleicht veranlasst hat, diese Texte als Mahnung zu verfassen. An die Gottlosen gerichtet. An feindliche Völker. Als Aufruf an alle Menschen zur Umkehr, zu einer Orientierung an göttlichen Werten. Und – ja – auch zum Vertrauen auf einen Neu-Anfang.
Alles auf Anfang. Diese Zusage Gottes haben wir ja. Wir selbst können immer wieder neu beginnen. Ich darf feststellen, dass ich einen falschen Weg genommen habe. Ich kann zurück zur letzten Abzweigung und mich nochmal anders entscheiden. Ich darf aus der Sackgasse raus und einen anderen Weg einschlagen. Gott sagt eben nicht: Tut mir leid, das hättest Du Dir vorher überlegen müssen. Ich kann zurück auf Los. Jederzeit.
Bedingung ist, dass ich darauf vertraue, dass ich noch einmal einen anderen, neuen Weg einschlagen kann – und dass ich erkenne, dass da „Saft in der Traube“ ist. Denn genau das steht ja hier im Buch Jesaja: Sobald sich Saft in der Traube findet, sagt man: Verdirb sie nicht, denn es ist Segen darin. Egal, was vorher war.
Es geht – in der gesamten Bibel, klar – aber auch im Buch Jesaja und dort ganz explizit nochmals in diesen letzten Kapiteln um Nachfolge. Um ein Leben in Gottes Sinne auf Erden. Gott hat keine Hände und Füße, mit denen er auf der Erde tätig werden kann. Es sind unsere Hände und Füße, mit denen wir Gottes Willen umsetzen und Gottes Frieden schaffen können. Im Großen wie im Kleinen.
Am vorletzten Sonntag hatten wir das so genannte Gleichnis vom verlorenen Sohn gehört. Dazu gibt es viele unterschiedliche Auslegungs-Möglichkeiten. Eine war die mit der Bewegung, ich hatte in den Pfarrnachrichten darüber geschrieben: Fasten und Umkehren heißt „in Bewegung bleiben“.
Eine andere habe ich bei einem Pfarrer meiner früheren Heimatgemeinde gehört: Der Vater, der den jüngeren Sohn, den Rückkehrer, in Freude und bedingungslos wieder aufnimmt und „für ihn da“ ist. Und dem älteren Sohn sagt: „Was mein ist, ist auch Dein.“ – Eine Zusage an beide seine Nachkommen. Was auch passiert: „Hier bin ich“.
Und so machen es auch wohl die meisten Eltern mit ihren trotzigen Kindern: Das nervt – ja! Aber es ändert nichts an ihrer Zusage: Hier bin ich. Ich bin für Dich da. Nicht aus Furcht vor Gott oder vor seiner Vergeltung („Ich zahle ihnen den Lohn aus für ihre Schuld“), sondern aus einer inneren Liebe heraus. Aus einem tiefen, ureigenen Wunsch nach Frieden.
Ich weiß, dass hier heute Morgen Menschen sitzen, deren Kinder jeden Bezug zur Kirche und zu einem gelebten Glauben verloren haben. Ich weiß aber auch: Sie sind trotzdem für sie da.
Und genauso ist Gott für uns da. Aus einer inneren Liebe heraus. Und aus einem trotz allem Unrecht immerwährenden Wunsch nach Frieden in der Welt.
Diese seine Zusage steht.
Und das finde ich dann wirklich richtig cool.